Wenn ich an ein Schulgebäude denke, so sehe ich entweder ein klassisches Gymnasium vor mir, in mehr oder weniger modern und gut erhalten, vor dem sich kreischende Schülerhorden tummeln oder die riesen Blöcke eines OSZs, vor dem unüberschaubare Horden von total semi-erwachsenen Azubis lässig die Klimaerwärmung herbeirauchen.
Jetzt stand ich vor dem Förderzentrum, zu dem mein Workshop-Dozenten-Job mich geschickt hat. Erster Eindruck: Klein. Sehr klein. Und sehr sehr runtergekommen. Da war was: Erinnerungen an meine Grundschule in einem sozial eher schwachen Gebiet kommen auf. Drinnen: Jup. Meine Grundschule. Der gleiche Innendesigner. Trostlose 80er-Jahre-Bausünde trifft auf 25 Jahre Renovierungsstau. Förderzentren scheinen bei der zuständigen Schulbehörde keine Investitionspriorität zu haben. Aber es ist penibel sauber und umfangreich mit Schülerpostern und anderen Unterrichtsergebnissen dekoriert.
Mein Kollege ist auch schon da, der hat den Vorteil Sonderschulpädagogik zu studieren, der kennt solche Förderzentren. Und bald werden wir orientierungslos Rumstehenden von einem Erzieher aufgegabelt. Jede Klasse hat einen Bezugserzieher, unserer ist klein, gepierced und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Er bringt uns zur Klasse. Es klingelt grundsätzlich in dieser Schule nicht und zum Stundenbeginn fehlt die Hälfte. Kommen die noch? Schulternzucken der SuS. Der eine oder andere stehe noch draußen, ob man ihn holen solle…? Der Erzieher entscheidet auf Nein, jeder kann die Uhr lesen und wer zu spät kommt verpasst halt was. Ich merke schon, hier stehen andere andere Lernziele und Kompetenzen im Vordergrund. Tatsächlich trudeln noch im laufe der Zeit ein paar SuS ein, die einfach zu cool zum pünktlich-sein sind.
2 Frauen schneien in den Raum. Sie sollen hier einen Workshop machen. Wir sind irritiert… ist das nicht unser Job? Es stellt sich heraus, dass es eine Doppelbuchung gab und wir lassen die beiden mal machen. Hier ticken die Uhren anders. 45 Minuten erleben wir so eine pädagogische Einheit zum Thema Zahnhygiene und Zähneputzen für 10. Klässler, bevor ich mir mit meinen 4 Jungs einen eigenen Raum suche. Eigentlich sollten es 2 mehr sein, aber … naja, sind halt nicht da.
Die letzten beiden Tage waren Kollegen da und haben Workshops zum Thema Themenfindung und Recherche gemacht. Oben angekommen frage ich mal, welche Themen die Jungs sich so ausgesucht haben für ihre Präsentationen:
- „Playstation“
- „Battlefield 4“
- „Anime“
- *keine Antwort, nur Schweigen*
Der Schweiger erinnert mich an Kenny, er hat sich in seine Jacke verkrochen und wird die nächsten 2 Tage in meiner Anwesenheit auch nichts sagen. Also lass ich ihn mit dem souverän daherkommenden „Ich brauch keine Notizen, ich hab alles im Kopf“-Macher zusammen an dem Playstation-Vortrag arbeiten. Der Anime-Fan ist ein ganz Überschwenglicher, der vor Begeisterung immer sein Shirt halb auszieht und vom Platz aufspringt. Der Battlefield-Experte ist genau das… ein Experte. Ich hab ja etwas Ahnung, aber er ist kaum zu bremsen.
Eine interessante Lerngruppe hab ich da.
Der Tag vergeht wie im Fluge. Die Jungs machen mit, sind begeistert, neugierig, interessiert. Es ist fachlich nicht mit Gymnasialunterricht zu vergleichen, die Geschwindigkeit ist langsam, immer wieder muss ich meine Fachworte erklären, die mir so rausrutschen und manchmal brauchen die Jungs einfach ein paar Minuten um die Konzentration wieder zu finden. Ich gebe ihnen den Raum den sie brauchen, dafür bemühen sie sich auf meine Ansage hin auch wieder zum Thema zu kommen.
Beeindruckend ist die Begeisterung: sie ist echt und direkt. Ich erkläre Formalia, Aufbau und Struktur einer Präsentation und die Jungs haben Spaß, wir kommen voran, langsam aber dann doch im Zeitplan. Nachdem ich ihnen die Grundzüge einer Argumentation erklärt habe, bricht sogar eine genau an den Regeln laufende Diskussion über den Sinn und Unsinn von Schuluniformen aus. Ich steh staunend daneben. Selten hab ich so direkt einen Lerneffekt gesehen. Meine Kernaufgabe entpuppt sich sehr schnell als das Kanalisieren der Begeisterung und die Konzentration der Begeisterung auf das Präsentationstauglichste, da sie unglaublich gerne ihr Fachwissen in epischer Breite darstellen wollen. Ich habe das Gefühl, das sie selten mal im Alltag mit Wissen glänzen können und den Moment grade genießen. Zum Abschluss des Tages stimmen alle (bis auf Kenny, der sagt nichts dazu) dafür, Powerpoint statt so altmodischer Plakate zu machen und sie bekommen den Auftrag zum nächsten Tag einen Computerraum zu organisieren.
Es klappt. Am nächsten Tag recherchieren sie im PC-Raum zu ihren Themen und bauen ihre PPPs auf, ich gebe eigentlich nur Hilfestellung beim Abgrenzen von Wichtigem zum „Zuviel Details“. Der Macher delegiert das Schreiben vollständig in bester Chef-Manier an seinen Sekretär Kenny. Ich überlege ob ich interveniere, auf eine gerechtere Arbeitsverteilung poche, entscheide mich aber dagegen. Neudenken. Kenny ist nicht gut im Entscheiden, der Macher nicht gut im Schreiben, im Team ergänzen sich beide und wirken zufrieden. Gerecht meint hier nicht Gleich und Gleich sondern Stärke und Stärke. Anders Denken.
Für den Nachmittag sind die Präsentationen angesagt, auch 3 Lehrkräfte wollen kommen. Die Jungs sind nervös. Ich auch. Ich mache eine Stunde zum Thema Lampenfieber und Entspannung, der Überschwengliche bemüht sich es umzusetzen, hüpft aber immer wieder halbnackt durch den Raum, je näher die Präsentationen kommen. Der Battlefield-Experte ist im Schockzustand, einer der angekündigten Lehrer zockt selber Battlefield und diese ehrfurchtseinflössende Instanz kommt nun um ihn in seinem Fachwissen zu richten und abzuwägen. Der Macher und Kenny werden immer hektischer, der Macher laut, Kenny schweigend.
Pause. Draußen verkaufen die Schülerinnen und Schüler aus dem Hauswirtschaftskurs ihre selbstgeschmierten Brötchen. Praktisches Lernen steht hier im Vordergrund, das Förderzentrum hat 3 Schülerfirmen, eine davon macht Catering. Spannend.
Die Präsentationen laufen wirklich wirklich toll. Die Jungs geben sich Mühe, nutzen das Erlernte und platzen sichtlich vor Stolz, das die Lehrkräfte das auch durch die Bank sehr positiv wertschätzen. Sie empfehlen die Präsentationen als Grundlage für die Abschlussprüfung zu verwenden.
Auch wenn ich nie erfahren werde, wie viel davon jetzt wirklich langfristig hängen geblieben ist: Ich bin stolz auf meine Jungs.
Im Nachgang erfahre ich, das alle davon aufgrund von attestierte Lernbehinderungen hier im Förderzentrum sind, bis auf den Experten, der aufgrund einer ausufernden Drogenkarriere bis zur 9. Klasse den Anschluss verpasst hatte und hier weitermacht. Und das sie der umgänglichere Teil der Klasse sind.
Ich nehme für mich mit, das Lehrer sein auch solche Lerngruppen bedeuten kann. Und das das auch erfüllend sein kann.
Das Neudenken hat sich gelohnt.